E-Books und andere elektronische Medien werden in Bibliotheken immer stärker genutzt. Doch die Kultur- und Bildungseinrichtungen können das Angebot nicht entsprechend ausbauen. Deshalb muss das Urheberrechtsgesetz (UrhG) dringend neu geregelt werden, sagt Oliver Hinte, der Vorsitzende der Rechtskommission des Deutschen Bibliotheksverbands e.V. (dbv) und Geschäftsführer der Fachbibliothek Recht der Universität Köln.
dbv: Herr Hinte, Bibliotheken bieten heute einen großen Bestand an E-Books, elektronischen Zeitungen und Zeitschriften. Die Nutzer fragen diese Medien immer stärker nach. Doch die Bibliothekare sind unzufrieden. Ihrer Meinung nach ist die rechtliche Grundlage für die Ausleihe unzureichend. Warum?
Hinte: Die elektronische Ausleihe bereichert das Angebot der wissenschaftlichen wie Öffentlichen Bibliotheken beträchtlich. Unsere Nutzer lesen immer öfter auf E-Book-Readern oder Computern. Aus der Wissenschaft sind elektronische Publikationen heute gar nicht mehr wegzudenken. Doch die rechtliche Grundlage, das heißt die Regelungen im Urheberrechtsgesetz, wird dieser Situation nicht annähernd gerecht. Hier ist Vieles noch auf die Welt der gedruckten Produkte ausgerichtet. Das Gesetz hinkt der digitalen Welt hinterher.
dbv: Was heißt das konkret für die Ausleihe von E-Books oder elektronischen Zeitungen?
Hinte: Im Gegensatz zu gedruckten Werken, haben die Bibliotheken keinen Rechtsanspruch darauf, elektronische Medien verleihen zu dürfen. Das ist die Konsequenz aus den Paragrafen 17 und 27 UrhG. Diese Paragrafen sind so genannte Schrankenparagrafen. Sie schränken das Recht des Urhebers dahingehend ein, dass ein Käufer sein Werk gegen eine angemessene Vergütung weiterverleihen kann, sofern die damit verbundene Nutzung keinen kommerziellen Zweck verfolgt. Doch die Schrankenparagrafen gelten nur für gedruckte Werke, nicht für elektronische.
dbv: Welche Konsequenzen hat das für Bibliotheken?
Hinte: In einer Wissensgesellschaft, in der zunehmend digital publiziert wird, sind die Konsequenzen dramatisch. Der öffentliche Zugang zu elektronischen Medien wird unangemessen eingeschränkt. Denn die Bibliotheken müssen für jedes E-Book, für jede elektronische Zeitschrift erst einmal eine Lizenz mit den Rechteinhabern, also den Autoren oder Verlagen, aushandeln…
dbv: … aber was ist so schlimm daran? Schließlich sind sie die Urheber der Werke und haben ein Recht auf Vergütung.
Hinte: Die Vergütung stellt auch niemand in Frage. Für gedruckte Werke ist sie ja für die Öffentlichen Bibliotheken bereits über die so genannte Bibliothekstantieme geregelt, die Bund und Länder an die Autoren für die Ausleihe in Bibliotheken zahlen. Wirklich schlimm ist, dass Bibliotheken kein Recht darauf haben, eine Lizenz zur Ausleihe eines elektronischen Werkes zu erhalten. Dadurch haben die Rechteinhaber, also in erster Linie die Verlage und die Autoren, eine einzigartige Machtposition. Sie bestimmen, ob sie eine solche Lizenz überhaupt erteilen. Und wenn ja, zu welchen Bedingungen. Das gilt für Öffentliche wie wissenschaftliche Bibliotheken. Damit bestimmen die Verlage und nicht die Bibliothekare, was dort als elektronischer Bestand angeboten wird und was nicht. Und bei den elektronischen Publikationen, die sie für einen Verleih zulassen, bestimmen sie wesentlich den Preis einer Lizenz und die Ausleihbedingungen mit. Kernaufgabe der Bibliotheken ist es aber, jedermann einen einfachen, kostengünstigen Zugang zu Bildung und Information zu bieten. Diese Kernaufgabe wird durch die derzeitigen Regelungen ausgehebelt.
dbv: Wie könnte das Problem aus Ihrer Sicht gelöst werden?
Hinte: Uns geht es ja nicht darum, dass wir irgendetwas geschenkt bekommen. Wir wollen, dass eine Ausleihe zu fairen Bedingungen für beide Seiten möglich wird. Dazu ist aus unserer Sicht eine Änderung im Urheberrechtsgesetz die beste Möglichkeit. Die einzelnen Schrankenparagrafen sollten durch eine einheitliche Bildungs- und Wissenschaftsschranke ersetzt werden. Damit könnten Bibliotheken unter anderem elektronische Werke zu den gleichen Bedingungen erwerben und ausleihen wie gedruckte Bücher. Für den Bereich der Öffentlichen Bibliotheken müsste dann die Bibliothekstantieme entsprechend ausgeweitet werden. Für die wissenschaftlichen Bibliotheken brauchen wir Modelle, die einen fairen Preis für beide Seiten festlegen.
dbv: Welche Schrankenparagrafen wären davon noch betroffen?
Hinte: Einer dieser Paragrafen ist der 52 a. Er macht es Studierenden und Forschern möglich, urheberrechtlich geschützte Werke in wissenschaftlichen Bibliotheken in Ausschnitten zu nutzen. Dozenten können also beispielsweise in Semesterapparaten Fachliteratur in Teilen zugänglich machen. Dieser Paragraph ist jedoch seit seiner Einführung im Jahr 2003 immer nur befristet gültig. Ende 2012 ist er zuletzt verlängert worden. Wieder nur für zwei Jahre.
dbv: Aber damit kann man doch arbeiten.
Hinte: Eben nicht. Die Anzahl der Studierenden nimmt seit Jahren ununterbrochen zu und wird dies auch in den kommenden Jahren. Gleichzeitig gibt es an zentraler Stelle, nämlich den Unterrichtsmaterialien immer wieder Ungewissheit darüber, wie lange noch was erlaubt ist. Der Bundesgerichtshof hat just in einer Entscheidung eine Begrenzung der Inhalte vorgenommen, die von Hochschulen für elektronische Semesterapparate auf einer Lernplattform eingestellt werden können. Danach dürfen die Teile höchstens 12 Prozent des Gesamtwerks und nicht mehr als 100 Seiten ausmachen. Zudem ist die Digitalisierung nur zulässig, wenn der Rechtsinhaber der Universität keine angemessene Lizenz für die Nutzung angeboten hat. Es ist momentan noch unklar, wie die Vergütung dieser Nutzung aussehen soll. Dieses Problem soll gerade das Oberlandesgericht München klären. Und die exakte Interpretation dieses Paragrafen ist ebenfalls zweideutig. Was ist zum Beispiel eine Nutzung in Ausschnitten? Wir brauchen hier dringend eine dauerhafte Lösung. Der Paragraph 52 a muss deshalb wenigstens entfristet und eindeutiger gefasst werden.
dbv: Und dann wären alle Probleme beseitigt?
Hinte: Nein, leider noch nicht. Weitere Schrankenparagraphen regeln zum Beispiel die Nutzung digitaler Leseplätze oder die digitale Fernleihe. Durch Paragraf 52b haben wir etwa die merkwürdige Situation, dass Bibliotheksnutzer ein Buch der Einrichtung, das diese physisch besitzt und digitalisiert hat, an einem Bildschirm lesen können. Sie dürfen es aber nicht ausdrucken oder auf einem USB-Stick speichern. Sie könnten es von Hand abschreiben. Aber das ist nun genau das Gegenteil dessen, was die neuen Medien möglich machen sollen. Der Bundesgerichtshof und der Europäische Gerichtshof müssen derzeit laufende Verfahren zu diesem Punkt entscheiden. Eine umfassende Bildungs- und Wissenschaftsschranke, die pauschal die Nutzung von Werken im digitalen Zeitalter regelt, würde auch dieses Problem lösen.
dbv: Was hat der Europäische Gerichtshof damit zu tun?
Hinte: Urheberrechtsfragen machen nicht an Landesgrenzen halt. In allen Fragen brauchen wir also Lösungen, die weltweit kompatibel sind. Deshalb befasst sich demnächst auch die WIPO, die Weltorganisation für geistiges Eigentum, mit solchen Fragen.
dbv: Für so genannte vergriffene und verwaiste Werke gibt es seit September eine Lösung. Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen können urheberrechtlich geschützte Werke ab kommendem Januar auch dann digitalisieren und über das Internet zugänglich machen, wenn deren Urheber nicht mehr ermittelbar sind.
Hinte: Ja. Diese Regelung begrüßen wir sehr. Sie war lange überfällig. Denn damit können wir unseren Nutzern künftig den Zugriff auf viele Werke ermöglichen, die der Öffentlichkeit lange vorenthalten waren. Im gleichen Zug wurde übrigens auch das Zweitveröffentlichungsrecht für Wissenschaftler eingeführt.
dbv: Ein Fortschritt für Wissenschaftler?
Hinte: Ja und Nein. Es ist gut, dass es endlich eine Regelung gibt. Aus unserer Sicht ist sie aber unzureichend. Erstens gilt sie nur für Forschungsarbeiten, die mit öffentlichen Mitteln gefördert wurden. Zweitens ist die zwölfmonatige Frist bis zur zweiten Veröffentlichung aus unserer Sicht zu lang. Diese so genannte Embargofrist sollte höchstens ein halbes Jahr betragen. Darüber hinaus sollte das Zweitveröffentlichungsrecht auch für Wissenschaftler gelten, deren Arbeit nicht öffentlich gefördert wurde, die die Arbeit also beispielsweise im Rahmen ihrer Tätigkeit an einer Hochschule erstellt haben. Und schließlich sollte das Zweitveröffentlichungsrecht nicht auf Beiträge beschränkt sein, die in Periodika erscheinen. Beiträge zu einem Tagungsband sind nämlich momentan auch noch nicht erfasst.
dbv: Immerhin reagiert der Gesetzgeber.
Hinte: Na ja. Seit Jahren soll das Urheberrechtsgesetz umfassend geändert werden. Doch das geschieht immer wieder nur in Teilen und mit sehr langem Atem. Zudem sind die bisherigen Entscheidungen der Gerichte mitunter absolut praxisfremd. Das Landgericht Bielefeld zum Beispiel hat im Frühjahr dieses Jahres den Gebrauchtverkauf von E-Books untersagt. Es sei keine unangemessene Benachteiligung, dazu die Zustimmung des Rechteinhabers einzuholen. Denn ein Verbraucher habe nur ein nachgeordnetes Interesse daran, ein E-Book weiterzuverkaufen. In erster Linie wolle er es lesen und gebe sich mit dieser Nutzung auch zufrieden. Mit der Lebenswirklichkeit hat das nur noch wenig zu tun.